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Eugen Wendler hat sich in dieser Gasse schon die Jackenknöpfe abgeschabt. Und sich dabei gefragt, wozu eine so atemberaubend enge Straße gut sei. „Mit einer Milchkanne wäre man hier ja schon nicht mehr durch- gekommen“, sagt er. „Es kann nur ein Fluchtweg gewe- sen sein.“ Falls es mal wieder gebrannt hätte, wie 1726, als ein Feuer fast die ganze Stadt zerstörte. Die Gasse heißt Spreuerhofstraße und misst an ihrer engsten Stelle kaum mehr als dreißig Zentimeter. Damit hat sie es ins Guiness-Buch der Rekorde geschafft.
Wendler musste hier schon x-Mal durch. Auch die Frauengruppe, die er heute führt, lässt ihn nicht so leicht davon kommen. Also zieht er seinen Bauch ein und trippelt seitwärts in den engen Gang. Er hält eine Hand zwischen die Wand und seine beige Windjacke, aus der ein gestärkter Hemdkragen lugt. Sein weißer Haarkranz ist vom Herbstwind verweht.
Der Mann kennt die Stadt seit seiner Geburt, einer Hausgeburt in der Ringelbachstraße, vor 75 Jahren. Und eigentlich noch viel länger: Er hat die Stadtgeschichte erforscht und ein Buch mit 140 Kapiteln darüber
Erfrischend: Gastronomie in historischen Mauern.
Versteckt: Skulpturen an Spitalhof und Tübinger Tor.
Bauch rein: Mit 31 cm Breite ist die Spreuerhofstraße die engste Straße der Welt.
geschrieben. Er ist Wirtschaftswissenschaftler und His- toriker. Professor Doktor Doktor Eugen Wendler. Er war fünfzehn Jahre weg, hat in Tübingen, Mannheim und Konstanz studiert. Sonst war er immer da.
Er schiebt seine Brille mit Goldrahmen zurecht. Nach einer Stadtführung mit ihm könnte man meinen, sie besitze Zauberkräfte: Wendler sieht die Stadt mit ande- ren Augen. Er erkennt die Geschichte hinter den Gebäu- den. In der oberen Wilhelmstraße, wo die meisten
Zeitzeuge: Das weit über 600 Jahre alte Gartentor mit Gartentorbrunnen.
Reutlingen 6
Wo Tradition Stadt findet


































































































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